Volin
Volin (d.i. Wsewolod Michailowitsch Eichenbaum, geb. 1882) ist ein aus bürgerlichen Verhältnissen stammender russische Publizist, der unter seinem nom de guerre „Volin” später als Anarchist eine internationale Bekanntheit erlangte. Eichenbaum hatte in Sankt Petersburg Jura studiert und sich seit der Jahrhundertwende in der Arbeiterbewegung engagiert, indem er Bildungskurse für Arbeiter veranstaltete. Im Januar 1905 beteiligte er sich – nun unter dem Namen „Volin” (d.h. „Mann der Freiheit”) – an der Revolution, die in St. Petersburg nach der blutigen Niederschlagung einer friedlichen Demonstration von 150.000 Arbeitern gegen das Zarenregime ausgebrochen war. Volin, der bis dahin parteilos gewesen war, war 1905 der Sozialrevolutionären Partei beigetreten und hatte sich auch an der im Juli des folgenden Jahres in Kronstadt stattgefundenen revolutionären Erhebung beteiligt. Nach der Niederschlagung des Aufstandes, wurde Volin verhaftet und zur Verbannung nach Sibirien verurteilt. Aber es gelang ihm 1907 während seiner Deportation nach Sibirien zu fliehen. Er ging nach Paris ins Exil, wo er in Kontakt mit der anarchistischen Bewegung kam und sich um 1911 selber dem Anarchismus zuwendete. Doch auch in Frankreich bekam er wegen seines politischen Engagements die Repression der Behörden zu spüren. So wurde er 1915 wegen seiner Antikriegsagitation zur Haft in einem Internierungslager verurteilt, der er sich durch die Flucht in die USA entziehen konnte. Er ließ sich in New York nieder, wo es eine starke russische Community gab, und war dort für die russischsprachige anarchosyndikalistische Zeitschrift „Golus Truda“ tätig, die als das Organ „Union der russischen Arbeiter in den Vereinigten Staaten und Kanada“ erschien.
Nach dem Ausbruch der Februarrevolution in Russland 1917 erließ die provisorische Regierung Russlands eine Generalamnestie. Diese ermöglichte es Volin gemeinsam mit der gesamten Redaktion von „Golos Truda“ nach Russland zurückzukehren, wo das Blatt als das Organ der „Anarchosyndikalistischen Propaganda Union“ erst in Sankt Petersburg und ab März 1918 in Moskau erschien, zu deren Leiter Volin ernannt wurde. Zum Redaktionsstab des Blattes, das als das wichtigste Sprachrohr der anarchistischen Bewegung in Russland betrachtet werden kann, gehörten neben Volin auch solche prominenten russischen Anarchisten wie Gregori Maximow, Alexander Schapiro und Efim Yartschuk.
Die ab Ende 1917 zunehmende Repression der Bolschewiki gegen die anarchistische Bewegung in Russland, bewog Volin Ende 1918 in die Ukraine zu gehen, wo er mit anderen Anarchisten die anarchistische Föderation der Ukraine gründete. 1919 schloss er sich in Odessa der bäuerlichen Partisanenarmee unter der Führung des Anarchisten Nestor Machno an, die gegen die zarentreue Weiße Armee und die deutschen und österreichischen Mittelmächte kämpfte. Mitte Januar 1920 wurde die nach ihrem Führer benannte Machnowscina von der Rote Armee der Bolschewiki angegriffen und sah sich gezwungen, einen Zweifrontenkrieg zu führen. Volin wurde von Agenten der bolschewistischen Regierung gekidnappt und entging nur knapp seiner von Trotzki angeordneten Hinrichtung. Im März 1920 wurde Volin nach Moskau deportiert, wo er bis Oktober in Haft verblieb. Zu dieser Zeit hatte sich die militärische Lage für die Rote Armee verschlechtert, die eine Entlastung durch eine Bündnisvereinbarung mit Machno suchte, die Volin die Begnadigung und Haftentlassung brachte. Doch die Freiheit sollte nicht lange währen. Kaum war es der Roten Armee gelungen mit Hilfe der Machnowscina die Weiße Armee zu besiegen, brachen die Bolschewiki im November 1920 ihr mit Machno getroffenes Bündnisabkommen und gingen in ihrem Machtgebiet erneut mit äußerster Härte gegen die anarchistische und anarchosyndikalistische Bewegung vor. Im Zuge dieser Verfolgung wurden Volin und viele seiner Genossen verhaftet und im berüchtigten Taganka Gefängnis in Moskau inhaftiert, das schon zu Zeiten des Zaren als Haft- und Folterstätte für politische Gefangene gedient hatte.
Ihren Höhepunkt erreichte der bolschewistische Repression gegen die anarchistische Bewegung nach dem Kronstädter Arbeiter- und Matrosenaufstand Aufstand im März 1921. Im Sommer desselben Jahres fand in Moskau eine Tagung der sog. „Roten Gewerkschafts-Internationale” (RGI) statt, an der sich auch Delegierte ausländischer anarchosyndikalistischer Organisationen beteiligten. Zur gleichen Zeit traten im Taganka-Gefängnis 13 inhaftierte russische Anarchisten und Anarchosyndikalisten, unter ihnen auch Volin, aus Protest gegen ihre politische Inhaftierung und die Brutalitäten der Tscheka in den Hungerstreik. Dies und die ersten genaueren Informationen über die blutige Niederschlagung des Kronstädter Aufstands durch die Rote Armee, lösten unter den syndikalistischen Delegierten des Gewerkschaftskongresses einen Sturm der Empörung aus. Zwar willigten die Bolschewiki am 10. Tag des Hungerstreiks auf Druck der syndikalistischen Delegierten ein, die 13 inhaftierten Anarchisten und Anarchosyndikalisten freizulassen, jedoch nur unter der Bedingung ihrer Deportation ins Ausland.
Volin ging wie auch die meisten anderen seiner freigelassenen Genossen Ende 1921 zunächst nach Berlin, wo er für die anarchosyndikalistische Freie Arbeiter Union Deutschlands (FAUD) tätig war. Zusammen mit anderen Flüchtlingen aus Russland gründete er ein Hilfskomitee für verfolgte Anarchisten und Anarchosyndikalisten in Sowjet-Russland und veröffentliche Berichte über die politische Repression in der Sowjetunion. 1923 zog er auf Einladung von Sebastian Faure nach Paris und unterstützte diesen bei der redaktionellen Arbeit an der Encyclopedie Anarchiste und schrieb Artikel für die französische und internationale anarchistische Presse. Während des Zweiten Weltkrieges war Volin, der inzwischen nach Marseille gezogen war, innerhalb einer kleinen Gruppe internationaler Anarchisten in der der Résistance gegen die deutschen Besatzer aktiv. Die Widerstandsgruppe flog auf, und nur Volin gelang es in letzter Minute der Verhaftung zu entkommen. Durch das rastlose Leben im Untergrund wurde seine Gesundheit schwer in Mitleidenschaft gezogen. Nach dem Kriegsende war Volin ein schwerkranker Mann, der von zwei spanischen Genossen gepflegt wurde. Zusammen mit seinem Sohn Leo kehrte er nach Paris zurück, wo er am 18. September 1945 im Krankenhaus an Tuberkulose verstarb. Zwei Jahre später erschien in Paris das von seinen Freunden herausgegebene Hauptwerk Volins: La Revolution inconnu, in dem der Autor den libertären Charakter der revolutionären Bewegung in Russland beschreibt und dokumentiert.